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Buhr HJ, Bruch HP. Allgemeinchirurgie in der Diskussion - Aus Sicht der Viszeralchirurgie. Chirurg 2008; 79(3): 203-208
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Einleitung

Bevor die Thematik „Allgemeinchirurgie in der Diskussion“ aus der Sicht der Viszeralchirurgie diskutiert wird, sollen noch einige allgemeine Anmerkungen gemacht werden.

  1. Die augenblickliche Debatte über die Allgemeinchirurgie ist nicht neu. Bereits 2002 wurde anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Konvents der Leitenden Krankenhauschirurgen ein Disput, damals über die Aufgaben der neuen Weiterbildungssäule „Allgemeine Chirurgie“, geführt [6].
  2. Die jetzt neu entbrannte Auseinandersetzung über die Allgemeinchirurgie scheint für viele Betrachter eine deutsche Angelegenheit zu sein. Dies ist aber weit gefehlt. Es ist eine globale Diskussion über die Allgemeinchirurgie in Gang gekommen. Weltweit wird die Aufgabe dieses Faches hinterfragt. Auf dem 93. Clinical Congress des American Colleges of Surgeons in New Orleans, Anfang Oktober 2007, war eine Sitzung ausschließlich der Allgemeinchirurgie gewidmet, in der aus jedem Kontinent ein Redner seine Situation darstellte. Auf dem Chinesischen Jahreskongress in Peking wurde ebenfalls über die Allgemeinchirurgie ausführlich diskutiert. Die Beschäftigung mit dieser Thematik bedeutet, die Chirurgie ist im Fluss. Sie hat sich verändert und es müssen Diskussionen um einzelne Bereiche geführt werden.
    Dies heißt aber auch, dass die Bedeutung der Allgemeinchirurgie erkannt worden ist und dies gilt insbesondere in den Vereinigten Staaten. Zahlreiche Publikationen beschäftigen sich mit der Allgemeinchirurgie, z. B. mit ihrer Stellung in der klinischen Versorgung, ihrer weiterführenden Spezialisierung oder auch der Karrieremöglichkeiten [1, 3, 4, 5, 7, 8].
  3. Wenn die Herausgeber eine Stellungnahme verschiedener Fachgebiete über die Allgemeinchirurgie wünschen, muss auch unweigerlich Stellung bezogen werden zur Verbindung des jeweiligen Faches zur Allgemeinchirurgie, in meinem Beitrag also die Beziehung der Allgemein- zur Viszeralchirurgie.
  4. Eine solche Darstellung kann nur aus der subjektiven Betrachtung des einzelnen Autors gesehen werden. Sie kann niemals die Meinung einer Fachgesellschaft, hier der Deutschen Gesellschaft für Viszeralchirurgie, widerspiegeln.

Nach diesem Vorspann nun zum Kernthema "Allgemeinchirurgie in der Diskussion".

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Allgemeine Chirurgie – Allgemeinchirurgie

Was ist "Allgemeine Chirurgie"?

Um vorweg eine wichtige Abgrenzung vorzunehmen, möchten wir zunächst definieren, was die „Allgemeine Chirurgie“ ist: Analysiert man die chirurgischen Lehrbücher des letzten Jahrhunderts, aber auch die Bücher anderer Fächer, wie Pathologie und Innere Medizin, so wird grundsätzlich unterschieden zwischen allgemeinen und speziellen Aspekten. Bezogen auf unser Fach werden im Abschnitt „Allgemeine Chirurgie“ Grundlagen der Chirurgie besprochen, wie Wundbehandlung, traumatischer, hämorrhagischer Schock und Polytrauma mit allen pathophysiologischen Veränderungen, Infektiologie, Untersuchungstechniken, perioperatives Management, allgemeines Komplikationsmanagement, Gerinnung etc.

Bei der Definition des Begriffes „Allgemeine Chirurgie“ muss festgehalten werden, dass es sich hier aus alter Tradition um fächerübergreifende allgemeine chirurgische Themen handelt. Im Abschnitt „Spezielle Chirurgie“ werden dann in jedem Lehrbuch die einzelnen Krankheitsbilder abgehandelt. Leider sind die Themen der „Allgemeinen Chirurgie“ auf unseren Kongressen stark in den Hintergrund getreten und auch in den Vorlesungen an den Hochschulen führen sie ein Schattendasein. Ob es an den gekürzten chirurgischen Lehrstunden liegt oder ob auch hier die Zersplitterung der alten Hauptvorlesung in viele Spezialgebiete dazu beigetragen hat, können wir nicht beantworten. Aber nach der Aufteilung der Vorlesung in alle Spezialitäten fühlt sich offensichtlich kein Hochschullehrer mehr für die Themen der „Allgemeinen Chirurgie“ verantwortlich.

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Was ist Allgemeinchirurgie?

"Was ist Allgemeinchirurgie? Besteht eine Verbindung zur Viszeralchirurgie?"

Die Beantwortung dieser Fragen ist natürlich schwierig und immer subjektiv. Andere Autoren mögen hier gegensätzliche Definitionen vorbringen. Eine allgemein akzeptierte exakte Definition kann es wahrscheinlich nicht geben. Es sind zu viele Aspekte zu berücksichtigen. Die Grenzen werden immer fließend und Überschneidungen zu Nachbardisziplinen unausweichlich sein.

Was wir unter Allgemeinchirurgie verstehen, möchten wir an der historischen Entwicklung der Chirurgie in Deutschland verdeutlichen:

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland zahlreiche chirurgische Kliniken gegründet, die sämtliche damals möglichen operativen Eingriffe durchführten. Zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert spalteten sich dann schrittweise die Ophthalmologie, Frauenheilkunde etc. ab. Dennoch hießen die Kliniken bis in die 50er Jahre „Chirurgische Klinik“. Ende der 40er und in den 50er Jahren verselbständigten sich die Anästhesie, Urologie und Neurochirurgie. In den folgenden 20 Jahren spalteten sich die weiteren Fächer Unfall-, Kinder-, Thorax- und Herzchirurgie ab. Somit war aus der „großen Chirurgischen Klinik“ die Allgemeinchirurgie entstanden; und diese Allgemeinchirurgie umfasste auf der einen Seite die Chirurgie des Häufigen wie Hernien, Appendektomien, Cholezystektomien, Strumen, Kolonchirurgie, aber auch die kleine Gefäß-, Kinder- und Thoraxchirurgie sowie natürlich die „hoch spezialisierte Viszeralchirurgie“ an den Organen der Bauch- und Brusthöhle.

Daher definieren wir die Allgemeinchirurgie als das, was an Erkrankungen nach der Abtrennung der o.g. Fachgebiete übrig geblieben ist.

Siewert bezeichnete die Allgemeinchirurgie 2002 beim Disput als die Chirurgie der Grundversorgung [6]. Dies ist sicher eine Definition, der man sich anschließen kann, aber als Alleinstellungsmerkmal wird eine solche Abteilung kaum in den Krankenhäusern tragbar sein und überleben.

Aber es muss auch festgehalten werden, dass die in der Musterweiterbildungsordnung von 2004 benannte Säule „Allgemeine Chirurgie“ falsch definiert ist und diese Ordnung dringend einer Korrektur im Interesse der Patienten, der Weiterzubildenden und der Krankenhäuser bedarf.

Es ist Heitland in seinem Editorial nur beizupflichten:

„Manches wäre leichter, wenn pragmatische Realität auch von den Fachgesellschaften und ihren Vertretern gesehen und anerkannt würde, denen in hoch spezialisierten Fachkliniken der Blick für das wahre flächendeckende chirurgische Leben verloren gegangen scheint“ [2].

Und Siewert sagt in seiner Funktion als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 2002 bei diesem Disput weiter:

“...dass eine Weiterbildungsordnung in erster Linie der Qualitätssicherung in der Krankenversorgung diene. Sie lizenziere sozusagen Chirurgen für ihre Tätigkeit, wobei potenziellen Patienten ein gesichertes Maß an Weiterbildung des Chirurgen signalisiert werde... Deshalb müsse eine Weiterbildungsordnung regelmäßig erneuert werden, um Weiterentwicklungen des Faches Chirurgie aufzugreifen...“ [6].

D.h. aber auch, Irrwege – und wir befinden uns auf einem Irrweg – sollten und müssen rückgängig gemacht werden. Eine Weiterbildungsordnung ist nicht ein in Stein gemeißeltes Gesetz.

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Allgemein- und Viszeralchirurgie aus der Sicht des Krankenhauses

Beim Versuch einer Betrachtung muss auch die Krankenhausstruktur berücksichtigt werden. Unter Allgemeinchirurgie wird man im Krankenhaus der Grundversorgung etwas anderes verstehen als im Krankenhaus der Regel- oder Maximalversorgung oder gar der Universitätsklinik und im ländlichen Kreiskrankenhaus etwas anderes als im Großstadtklinikum.

Diese Überlegungen zeigten, dass eine strenge Definition nie möglich sein wird; es wird ein zentraler Kern mit Unschärfen an den Grenzen bestehen.

Bei den vorhandenen unterschiedlichen Klinikstrukturen wird es immer wieder zu Überlappungen mit anderen Fachgebieten kommen. Dies wird auch durch die chirurgische Versorgungsrealität in Deutschland belegt: Heute wird in sehr vielen Krankenhäusern Expertise in Orthopädie/Unfallchirurgie und Allgemein- und Viszeralchirurgie vorgehalten, aber Kinder-, Thorax- und Gefäßchirurgie sind nur in wenigen Kliniken der höheren Versorgungsstufen regelmäßig zu finden. Daher muss in solchen Kliniken bzw. Abteilungen der Allgemein- und Viszeralchirurg zwangsläufig z. B. der kindliche Blinddarm, der Pneumothorax oder auch die arterielle Embolie behandelt werden. Anderenfalls würde in Deutschland nicht nur im Augenblick, sondern auch in Zukunft eine verheerende Versorgung resultieren. Das Polytrauma stellt ebenfalls eine fächerübergreifende Erkrankung dar. Auch muss es in Abhängigkeit der Versorgungsstufen oder der Krankenhausstrukturen notwendig sein, die Behandlung von Verletzungen wie Prellungen, Distorsionen oder Schnitt- oder Platzwunden durchzuführen.

Weiterhin ist zu beachten, dass abhängig von der Ausbildung bzw. Spezialisierung der Kollegen in einer Abteilung, also von Klinik zu Klinik unterschiedlich die Möglichkeit besteht, z. B. kleine Unfallchirurgie auszuüben. Dies gilt natürlich vice versa: Der Unfallchirurg, der über eine zusätzliche Spezialisierung in Allgemein- und Viszeralchirurgie verfügt, wird in der Lage sein, eine gewisse Allgemein- und Viszeralchirurgie zu betreiben. Dies hat auch für die Kinder-, Gefäß- oder Thoraxchirurgen mit entsprechender viszeralchirurgischer Ausbildung zu gelten.

Es müssen wie oben beschrieben die Größe des Krankenhauses, sein Versorgungsauftrag und die Weiterbildung des jeweiligen Chirurgen berücksichtigt werden.

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Allgemein- und Viszeralchirurgie aus der Sicht des Patienten

Die Klinik Allgemeinchirurgie mit der Spezialisierung Viszeralchirurgie war und ist die Anlaufstelle für jeden Patienten, der Hilfe sucht, nicht nur im Notfall. Diese Klinikstrukturen sind also nicht nur in der Lage, hoch spezialisierte Eingriffe vorzunehmen, sondern auch Bagatellleiden, wie z. B. Schweißdrüsenabszesse zu spalten oder Lipome zu exstirpieren. In einer solchen Klinik ist nicht der Alleskönner der dominierende Chirurg, sondern eine solche Klinik sorgt für eine breite chirurgische Ausbildung mit der Möglichkeit der weiteren Spezialisierung, wie z. B. in onkologischer Chirurgie, chronisch-entzündlicher Darmerkrankung etc., und in Abhängigkeit von der Größe einer Abteilung werden Spezialisten mehrerer viszeralchirurgischer Gebiete, wie Koloproktologie oder Transplantation, vorgehalten. Damit wird dem berechtigten Wunsch des Patienten nach einem Spezialisten mit bestmöglicher operativer Versorgung Rechnung getragen. Aber keine Abteilung für Allgemein- und Viszeralchirurgie wird heute mehr das gesamte Spektrum anbieten können und wollen.

Außerdem ist zu berücksichtigen, dass ein Krankenhaus, in dem Chirurgie nur noch in kleinen Spezialabteilungen der Allgemein- und Viszeralchirurgie nebeneinander betrieben wird, ohne großen Zusammenhalt, ohne entsprechende Koordinierung der diagnostischen und therapeutischen Abläufe, sich letztendlich nachteilig für den Patienten auswirken wird. Hinzu kommt noch die Problematik der Weiterbildung und der Gesundheitskosten.

Ein Beispiel aus einer anderen Disziplin belegt diese Gedanken: Ein Patient klagt über linksseitige Oberbauchbeschwerden. Gelangt er zunächst zum Kardiologen besteht die Verdachtsdiagnose „Hinterwandinfarkt“. Die diagnostische Spirale läuft ab. Gelangt er zuerst in die Gastroenterologie, steht die Verdachtsdiagnose Ulkus im Raum. Dieses Beispiel aus der Inneren Medizin belegt, wir benötigen auch in der Chirurgie zunächst nicht den Superspezialisten, sondern den gut und breit ausgebildeten Allgemeinchirurgen.

Diese Struktur wünscht der Patient. Er will nicht von Spezialist zu Spezialist mit jeweils aufwendiger, aber unter Umständen unnötiger Diagnostik weitergereicht werden, sondern er sucht einen Chirurgen, der qualifiziert beraten und, wenn er die Erkrankung nicht selbst versorgen, ihn an einen kompetenten Spezialisten weiter vermitteln kann. Der Patient benötigt somit einen Chirurgen, der in der Lage ist, bestimmte chirurgische Notsituationen und häufige chirurgische Erkrankungen adäquat zu diagnostizieren und zu behandeln.

Daher werden auch in vielen Kliniken die Notaufnahme und der Nachtdienst fächerübergreifend durchgeführt, natürlich mit dem sofort zur Verfügung stehenden Spezialisten im Hintergrund. Dieses System dient dem Patienten, dem auszubildenden jungen Kollegen und dem Krankenhausbudget.

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Allgemein- und Viszeralchirurgie aus der Sicht des Weiterzubildenden

Der junge Assistent, der sich für das Fach Chirurgie entscheidet, möchte heutzutage möglichst schnell seine Ausbildung abschließen und ein Zertifikat in den Händen halten, obwohl er nach der geltenden Musterweiterbildungsordnung noch kein selbständiger Chirurg ist, und er möchte sich zusätzlich spezialisieren. Die Spezialisierung hebt nach seinen Vorstellungen das Prestige in der Gesellschaft, die Selbstbestätigung und die finanzielle Absicherung. Außerdem ist die nächtliche Belastung im Dienst beim Spezialisten gegenüber dem Allgemeinchirurgen deutlich reduziert. Daher ist unter anderem in Amerika der Nachwuchs für Allgemeinchirurgie zurückgegangen. Ein weiterer Grund besteht aber darin, dass bei der Ausbildung zum Allgemeinchirurgen und anschließender Spezialisierung erheblich mehr Zeit benötigt wird. Es ist aber Aufgabe der Fachgesellschaft besonders darauf hinzuweisen, dass Chirurgie mehr ist als nur das Erlernen einer hoch spezialisierten Technik, dass zur Chirurgie sehr viel Erfahrung und Übung gehört, und dies benötigt Zeit, viel Zeit, "denn Training hört nie auf".

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Warum muss es eine Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie geben?

Die augenblickliche Diskussion um die Allgemeinchirurgie ist jetzt erneut stark entbrannt und sie muss diesmal zu Ende geführt werden. Ausgelöst wurde sie durch die geplante Umbenennung der Deutschen Gesellschaft für Viszeralchirurgie (DGVC) in die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV). Eine Fachgesellschaft, hier die DGAV, beansprucht also einen chirurgischen Bereich, um sich neben der in den Kliniken gelebten Praxis (mehr als 90% der deutschen Kliniken bezeichnen sich als Allgemein- und Viszeralchirurgen, einschließlich der Universitätsklinika auch der wissenschaftlichen Bearbeitung der Allgemeinchirurgie zu widmen.

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Was sind die Gründe für die Einheit Allgemein- und Viszeralchirurgie?

Die traditionelle chirurgische Struktur in Deutschland und die augenblicklich gelebte Situation.

a) Chirurgische Struktur

Wie bereits dargestellt, haben sich in Deutschland, wie auch in allen anderen Ländern der Welt, aus der großen Chirurgie im Laufe der Jahrzehnte die einzelnen Fachgebiete abgespalten, die in Fachgesellschaften ihre Gebiete wissenschaftlich permanent mehr oder weniger bearbeiten.
Dabei muss heute schon festgestellt werden, dass kleinere Fachgesellschaften teilweise nicht mehr in der Lage sind, fundierte Wissenschaft zu betreiben, wenn man vom reinen Zählen der Eingriffe absieht.
Nach diesen notwendigen und dem Fortschritt dienenden Abspaltungen und Verselbständigungen der einzelnen Fachgebiete blieb die Allgemeinchirurgie zurück, mit der von Klinik zu Klinik unterschiedlichen Spezialisierung im Bereich Viszeralchirurgie. Diese Struktur mit den entsprechenden Erkrankungen wird bis zum heutigen Tag wissenschaftlich bearbeitet und weiterentwickelt. Und sie beinhaltet eine Grundversorgung des Patienten in chirurgischer Beratung, Diagnostik und Therapie.

b) Augenblicklich gelebte Situation – Allgemein- und Viszeralchirurgie

Erst die zusätzliche Gründung der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie (DGAV) hat diese Tradition, die sich in Deutschland bewährt hat, weiter auseinandergerissen, obwohl sich auch heute noch die gelebte chirurgische Situation in weit mehr als 90% der deutschen Kliniken unverändert in der Struktur „Allgemein- und Viszeralchirurgie“ widerspiegelt. Es hat also eine virtuelle Trennung stattgefunden.
Sollten die Rückführung und die Änderung der Musterweiterbildungsordnung nicht erfolgen, wird sich die Viszeralchirurgie die chirurgisch häufigen Operationen nicht nehmen lassen. Dann würde die Allgemeinchirurgie untergehen und damit ein wichtiger Bestandteil in unseren Kliniken. Mit dem Gegenteil ist aber zu rechnen. Wir werden eine umfangreiche allgemein chirurgische Versorgung und Ausbildung entwickeln müssen, auf die sich dann die weitere Spezialisierung (wie kolorektale Chirurgie, Ösophagus und Magen, Leber, Galle, Pankreas etc.) fortführen ließe. Dies wird auch der europäischen Auffassung (Union Européenne des Médicins Spécialistes) gerecht.

Somit ist die Conclusio: Wir benötigen eine breit aufgestellte Allgemeinchirurgie. Die Spezialisierung wird von Klinik zu Klinik, von Chirurg zu Chirurg unterschiedlich sein. Sie wird auch davon abhängen, wie viel Zeit sie oder er aufbringen will, um mehrere Spezialgebiete zu erlernen und zu beherrschen.

Diese bisher dargestellte Problematik permanent im Auge zu haben, die Entwicklungen zu steuern und für das Fach zu beeinflussen, sind Aufgaben einer chirurgischen Fachgesellschaft.

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Pflichten und Aufgaben einer chirurgischen Fachgesellschaft

Daher möchten wir einige Gedanken zu den Aufgaben einer Fachgesellschaft formulieren, die nicht als Allgemeinplätze zu verstehen sind. Denn eine Fachgesellschaft definiert sich nicht nur über die Frage nach dem Operationskatalog, sondern auch über die wissenschaftlichen Inhalte von Forschung, die Lehre und über die Zukunftssicherung des Faches.

  1. Jede Fachgesellschaft hat zum einen die Aufgabe, das Fach wissenschaftlich weiter zu entwickeln, d.h. Diagnostik, Operationsindikationen, operative Verfahren, Zusatztherapien permanent mit wissenschaftlichen Methoden (Grundlagenforschung gemeinsam mit den entsprechenden Fächern, experimentelle Untersuchungen, klinische Studien etc.) auf den Prüfstand zu stellen und zu hinterfragen. Dabei muss die wissenschaftliche Diskussion fächerübergreifend ablaufen, in der Allgemein- und Viszeralchirurgie vernünftigerweise mit Gastroenterologen, Onkologen etc. Obwohl dies befruchtend für beide Diskussionsteilnehmer ist, sollte der Weg dennoch nicht zu einseitig beschritten werden, sondern es muss ebenfalls eine wissenschaftliche Diskussion unter den einzelnen chirurgischen Fächern erfolgen. Alle chirurgischen Fächer können von neuen Erkenntnissen der einzelnen Fachgebiete lernen, z. B. in der Wundbehandlung oder auch von Operationsverfahren; ich denke hier insbesondere z. B. an die Kinder- oder Gefäßchirurgie.
    Dies alles sollte von wissenschaftlichen Fachgesellschaften gesteuert und moderiert werden. Die oben aufgeführte Problematik zeigt für die wissenschaftliche Weiterentwicklung, insbesondere im so genannten Fachgebiet „Allgemeine Chirurgie“ erhebliche Defizite auf. Forschung und Publikationen erfolgten ausschließlich von allgemein-viszeralchirurgischen Kliniken.
  2. Zum anderen ist es Aufgabe einer Fachgesellschaft dafür zu sorgen, dass auch in der Zukunft kompetente, das Fach technisch beherrschende Chirurginnen und Chirurgen zur Verfügung stehen. Unsere wichtigste Aufgabe besteht darin, gute Chirurgen auszubilden. Dies ist ein gesellschaftlicher Auftrag, d.h. eine wissenschaftliche Gesellschaft hat sicherzustellen, dass diese Forderung der Öffentlichkeit erfüllt wird (entsprechend dem Kategorischen Imperativ von Kant).
    Diesem Ziel, die Ausbildung zu guten und das Fach technisch und wissenschaftlich beherrschende Chirurgen zu gewährleisten, müssen sich alle anderen Interessen, wie z. B. der von chirurgischen Fachgesellschaften, Berufsverbänden oder Funktionären, aber auch Interessen eines einzelnen Kollegen unterordnen.
    Das Primat, die Zukunft der Chirurgie zu sichern, tritt in der hitzigen Diskussion der letzten Monate zu oft in den Hintergrund, Partialinteressen und persönliche Eitelkeiten scheinen manchmal zu überwiegen.
  3. Die Aufgabe einer Fachgesellschaft, die aber leider in der Regel nicht wahrgenommen wird, ist der Einfluss auf die chirurgische Lehre an der Universität, obwohl feststeht, dass über Unterricht und Promotion die wesentliche Möglichkeit besteht, Studenten für die Chirurgie zu motivieren. Bisher ist jede Klinik im chirurgischen Unterricht ein Einzelkämpfer. Nicht umsonst ist der Anteil derjenigen Studenten, die sich nach dem Studium für das Fach Chirurgie interessieren, auf 6% abgesunken. Hier muss dringend eine Koordination mit dem Ziel der Verbesserung des chirurgischen Unterrichtes erfolgen, es muss ein Netzwerk gebildet werden. Die Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie hat im letzten Sommer eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die dieses Ziel verfolgt.
  4. Der Vollständigkeit halber müssen die Beobachtung und notfalls Korrektur der Weiterbildungsordnung und die Weiterbildung (Kurse, Seminare) der Weiterzubildenden sowie die berufspolitischen Aspekte erwähnt werden. Hierauf soll nicht eingegangen werden.

Wenn wir über die Allgemeinchirurgie diskutieren, sind nach unserer Meinung die Darstellungen über die Aufgaben einer Fachgesellschaft ebenfalls in die Betrachtung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Mitglieder der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie es mehrheitlich für notwendig erachten, die Umbenennung in Deutsche Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie vorzunehmen.

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Literatur

  1. Fernandez-Cruz L (2004) General surgery as education, not specialization. Ann Surg 240: 932–938
  2. Heitland W, Giensch M (2007) Editorial. Ambulante Chirurgie. Urban & Vogel, München 3: 3
  3. Liu JH, Etzioni DA, O’Connell JB et al. (2004) The increasing workload of general. Surg Arch Surg 139: 423–428
  4. Powell AC, Mc Aneny D, Hirsch EF (2004) Trends in general surgery workforce data. Am J Surg 188: 1–8
  5. Rhodes RS (2004) Defining general surgery and the curriculum. Surg Clin North Am 84: 1605–1619
  6. Saenger V (2002) Allgemeine Chirurgie – quo vadis? Zentralbl Chir 127: 1009–1011
  7. Stitzenberg KB, Sheldon GF (2005) Progressive specialization within general surgery: adding to the complexity of workforce planning. J Am Coll Surg 201: 925–932
  8. Thirlby RC (2007) The top 10 reasons why general surgery is a great career. Arch Surg 142: 423–429

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Korrespondenzadresse

Prof. Dr. H.J. Buhr
Chirurgische Klinik I, Charité – Universitätsmedizin Berlin
Campus Benjamin Franklin
Hindenburgdamm 30
12200 Berlin
heinz.buhr(at)charite.de

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